»Lesen verdirbt den Charakter« und »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« sind Leitsätze der Großeltern - kleiner Leute - für die Erziehung von Lore, die mal was Besseres werden soll.
Je mehr sie aber behütet wird, umso mehr strebt sie >overkieksch< ein eigenes Leben an, Krieg und Nachkrieg bestimmen den Alltag der Heranwachsenden und lehren sie, dass auch der Satz der Vatergeneration »Mit den Wölfen muss man heulen« falsch ist.
Sie bricht aus der vorgegebenen Welt aus; engagierte Lehrer und geliebte Gedichte helfen ihr auf der Suche nach dem eigenen Weg.
LESEPROBE:
Fast jede Nacht heulten die Sirenen. Großmutter riss das Kind mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Lore sollte übereinander anziehen, was sie besaß: zwei Leibchen, zwei Kleider, den Wintermantel. Vor Müdigkeit zitternd, manchmal den großen Puppenjungen im Arm, folgte sie der Großmutter in den Keller.
Es war ein normaler Keller, in dem die Asseln herumkrochen, nur durch ein dünne Decke von den Wohnungen darüber getrennt. In Regalen standen Gläser mit Eingewecktem. Zu einem Haufen in die Ecke geschüttet, keimten die Kartoffeln, lagen Wruken. Hier saß nun die Großmutter, das schwarze Wolltuch über den feinen Strohhut mit dem Veilchenbukett gebunden, schweigsam neben der lahmen Nachbar-Anna. Manchmal rieselte der kalte, feine Sand unter den Detonationen, die die große Stadt Stettin erschütterten. Sobald die Bomber ihr Werk getan, flogen sie den gleichen Weg zurück, um vielleicht schon morgen wiederzukommen.
Die Sirenen heulten zur Entwarnung. Großmutters Angst, einer der Flieger könnte über uns noch eine übrig gebliebene Bombe fallen lassen wie zum Spaß, zur eigenen Freude, war wieder beschwichtigt.
Trotz der schützenden Panzersperren belud Großvater an einem der kommenden kalten Apriltage den kleinen Handwagen mit ein paar Decken. Großmutter rückte den guten dick gekochten Himbeersaft - für einen besonderen Anlass gedacht - heraus. Aus allen Häusern kamen die Leute, spannten sich vor ihre mit ein paar Habseligkeiten beladenen Handwagen. Großmutter band die Kasserolle an einer Strebe fest wie sie es bei den Flüchtlingen gesehen hatte, die im Winter mit dem Treck durch die Stadt gezogen waren.
»Dat hem’w noch nicht erlebt«, brabbelte sie wieder und wieder und vergaß wie manchmal in den folgenden Wochen ihren Vorsatz, mit dem Mädchen Hochdeutsch zu sprechen.
Die blanke Angst trieb alle aus den Häusern, aus der Stadt. Ein Zug aus beladenen Handwagen bildete sich, zog den Walkmüllerweg entlang.
Je mehr sie aber behütet wird, umso mehr strebt sie >overkieksch< ein eigenes Leben an, Krieg und Nachkrieg bestimmen den Alltag der Heranwachsenden und lehren sie, dass auch der Satz der Vatergeneration »Mit den Wölfen muss man heulen« falsch ist.
Sie bricht aus der vorgegebenen Welt aus; engagierte Lehrer und geliebte Gedichte helfen ihr auf der Suche nach dem eigenen Weg.
LESEPROBE:
Fast jede Nacht heulten die Sirenen. Großmutter riss das Kind mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Lore sollte übereinander anziehen, was sie besaß: zwei Leibchen, zwei Kleider, den Wintermantel. Vor Müdigkeit zitternd, manchmal den großen Puppenjungen im Arm, folgte sie der Großmutter in den Keller.
Es war ein normaler Keller, in dem die Asseln herumkrochen, nur durch ein dünne Decke von den Wohnungen darüber getrennt. In Regalen standen Gläser mit Eingewecktem. Zu einem Haufen in die Ecke geschüttet, keimten die Kartoffeln, lagen Wruken. Hier saß nun die Großmutter, das schwarze Wolltuch über den feinen Strohhut mit dem Veilchenbukett gebunden, schweigsam neben der lahmen Nachbar-Anna. Manchmal rieselte der kalte, feine Sand unter den Detonationen, die die große Stadt Stettin erschütterten. Sobald die Bomber ihr Werk getan, flogen sie den gleichen Weg zurück, um vielleicht schon morgen wiederzukommen.
Die Sirenen heulten zur Entwarnung. Großmutters Angst, einer der Flieger könnte über uns noch eine übrig gebliebene Bombe fallen lassen wie zum Spaß, zur eigenen Freude, war wieder beschwichtigt.
Trotz der schützenden Panzersperren belud Großvater an einem der kommenden kalten Apriltage den kleinen Handwagen mit ein paar Decken. Großmutter rückte den guten dick gekochten Himbeersaft - für einen besonderen Anlass gedacht - heraus. Aus allen Häusern kamen die Leute, spannten sich vor ihre mit ein paar Habseligkeiten beladenen Handwagen. Großmutter band die Kasserolle an einer Strebe fest wie sie es bei den Flüchtlingen gesehen hatte, die im Winter mit dem Treck durch die Stadt gezogen waren.
»Dat hem’w noch nicht erlebt«, brabbelte sie wieder und wieder und vergaß wie manchmal in den folgenden Wochen ihren Vorsatz, mit dem Mädchen Hochdeutsch zu sprechen.
Die blanke Angst trieb alle aus den Häusern, aus der Stadt. Ein Zug aus beladenen Handwagen bildete sich, zog den Walkmüllerweg entlang.